Ⅸ : Spuria Haeretica │ 1 · Vision
»Spuria Haeretica ...«, flüsterte Azur. Seine leisen Worte wurden jedoch erschreckend laut von den Wänden des Gewölbes zurückgeworfen. Den Flammen der vielen Fackeln schien es nicht zu gefallen, so wie sie in hektisches Flackern ausbrachen, als die Echos durch sie hindurchwehten. Als hätten sie sich von diesen Worten genährt, loderten sie nun deutlich heller als zuvor.
Neko und Amor begriffen nicht, was er damit sagen wollte – bis die beiden, unter Gänsehaut, die knochigen Berührungen auf ihren Häuptern spürten. Erschrocken blickten sie zeitgleich zum Thron empor.
Das fast fleischlose Grinsen des mumifizierten Antlitzes, das sich ihnen langsam entgegenneigte, ließ Amor sofort zurückweichen. Wie ein Krebs im Rückwärtsgang, auf der Flucht vor dem Schnabel einer todbringenden Möve, entfernte er sich von diesem Anblick, bis er mit dem Kopf an einen der mächtigen Ziegelpfeiler stieß. Mit aufgerissenen Mund, Augen und Verstand schoben ihn seine scharrenden Stiefel mit dem Rücken am Pfeiler hinauf.
Neko, der die skelettierten Finger durch die seidigen Haare fuhren, zog sich die Kopfhaut zusammen, als würde auch diese am liebsten die Flucht antreten. Sie erhob sich vorsichtig, während ihr die knöcherne Hand dabei langsam über Wange ... Hals ... Brust ... und schließlich Bauch entlangstrich.
Dann spürte sie eine seltsam vertraute, neckische Geste.
Der ausgestreckte Zeigefinger pikste ihr einmal an die Stelle, an der sie keinen Bauchnabel hatte.
Azur hatte sich währenddessen auf wenige Schritte herangepirscht, stand hinter Neko, jederzeit bereit, sie diesem Wesen aus der Reichweite zu reißen. Doch was er dann mit ansah, ließ ihn mit dem seltsamsten Bauchgefühl, das er jemals verspürte, dastehen.
Neko sprang dem Wesen auf den Schoß. Umarmte dieses Ding so innig, dass es diesem fast die Knochen bersten ließ. Dann bedeckte sie die fahle, eingerissene Gesichtshaut mit einem Hagel aus stürmischen Küssen, wobei der letzte direkt auf die zusammengedörrten, grauen Lippen gedrückt blieb.
Azurs Bauchgefühl schwappte nur knapp an Übelkeit vorbei.
Amor, vom ersten Schock erholt, dämmerte es langsam. Doch er traute sich nicht näher. Auch nicht, als das Flammenkind sich jetzt mit dem glücklichsten Strahlen zu ihm drehte und ihre Augen ihm die frohe Botschaft überbrachten, auf die sie beide doch gehofft hatten: Licentia – und auf eine bizarre Art und Weise lebte sie noch.
Noch einmal drückte sich die kleine Schwester eng an das grausige, geliebte Wesen. »Endlich hab ich dich wieder! Ich liebe dich, Schwesterherz! Bitte lass mich nie wieder alleine!«
»Was ... was ist mit dir passiert?«, fand Amor seine Stimme wieder, blieb aber noch auf Abstand.
Die grünen Augen erfassten ihn. Schienen ihn mit ihrem Schimmer fast zu durchleuchten. Dann öffnete sich mit einem staubigen Knacken der verfallene Unterkiefer. Doch außer einem vertrockneten Röcheln, das ihm nichts als längst verweste Worte entgegenhauchte, bekam er keine Antwort.
»Amor!«, drehte sich Neko aufgeregt zu ihm um. »Gib mir bitte noch eineLocke von dir. Eine ganz graue aber! ... Und deinen Flachmann! ... Los!«
Immer noch in die seltsam leuchtenden Augen starrend, tat Amor völlig teilnahmslos, wie ihm geheißen. Er schnitt sich bedächtig, aber ohne hinzusehen, versehentlich gleich drei seiner geliebten Dreadlocks aus der Mähne und hielt sie in der einen Hand, während die andere geistesabwesend in seiner Tasche kramte. Er fand den Flachmann schließlich. Doch anstatt die Locken und den Schnaps wie gewünscht Neko zukommen zu lassen, nahm er selbst einen kräftigen Schluck, vertiefte sich immer weiter in das Funkeln der gespenstischen Augen und ließ dann vergessen beide Arme wieder herunterbaumeln.
Azur schnappte sich die verlangten Utensilien und reichte sie weiter. »Hast du vor, was ich denke? Hat Staub in Verbindung mit Alkohol denn irgendeine besondere Eigenschaft?«
»Nich direkt. Aber so falsch liegst du gar nich.« Sie tränkte die dunkelgrauste der Locken mit dem hochprozentigen Rum. »Alkohol ist einfach ein gutes Lösungsmittel für Staub ... siehst du?« Sie hielt ihm das Haarteil entgegen, das an einigen Stellen plötzlich strahlendhell weiß schimmerte. »Was meinst du, warum die besten Schriftsteller, die irgendwann hinter das Geheimnis kommen, alle Alkoholiker sind?!
Hat dir deine Muse wohl noch nich gesteckt, wa?«
Azur konnte keinerlei Sarkasmus in ihr erkennen. »Sie meint das tot-ernst. – Hatten ausnahmslos alle Talente etwas mit dem Staub zu tun? – Sie hatte schon Recht. Nicht grade wenige der klügsten Köpfe ihres Fachs hatten irgendwann das ein oder andere Drogenproblem.
Aber meist zeitgleich ihre kreativsten und erfolgreichsten Phasen ...«, dachte sich der schon lang erfolglose Poet, während er Neko bei ihrem Vorhaben weiter zusah.
Sie steckte sich die nun gut eingeweichten Haare in den Mund und kaute auch die letzten Staub-Anhaftungen aus ihnen heraus. Zwischenzeitlich genehmigte sie sich immer wieder einen erneuten Schluck.
Amor kaute derweil selbst unbewusst auf einer seiner, noch angewachsenen, dicken Locken herum. Wie gerne hätte er sein kleines Fläschchen wieder –.
Neko kniete sich, mit nun ziemlich aufgeplusterten Hamsterbäckchen, breitbeinig über den Schoß ihrer Schwester. Wie eine Vogelmama fütterte sie die Mumifizierte mit der gut durchwalkten Staub-Lösung. Der warme Silbersaft floss in einem feinen Strahl durch Nekos Lippen direkt in die raue Kehle.
Der Kiefer schloss sich. Neko spuckte das ausgequetschte, weiße Gewölle über ihre Schulter, direkt vor die Füße des Spenders.
Dann näherten sich die jetzt stark geröteten Lippen des Flammenkinds denen von Licentia wieder bis auf wenige Millimeter. Brust an Brust drückte sich Neko über sie, sodass beide zurück an die Lehne sanken. Der schwarze kinnlange Schleier fiel über Nekos zarte Wangen; über Licentias Wangenknochen und verbarg den letzten Kuss vor den Augen der Umstehenden.
Auf ziemlich irritierende und dezent abartige Weise erregte dieser Anblick die beiden Zuschauer.
Doch es waren weder chauvinistische Klischeegedanken, noch Hang zum Inzestuösen oder gar Nekrophilie.
Den Dichter im Raum faszinierte das gerade bildliche Zusammentreffen vom Kuss des Lebens mit dem Kuss des Todes.
Der berufene Romantiker fügte den Gedanken an die wahre Liebe hinzu.
Und beide fragten sich, was wohl aus dieser Verbindung hervorgehen mochte.
Neko richtete ihren Oberkörper nach Luft ringend wieder auf und warf dabei den Schleier zurück. Ihr hinterher folgte der nackte, weiße Leib einer jungen Frau mit langem, schwarzem Haar, das ein kantig geschliffenes, wenngleich anmutig graziles Gesicht umgab und weich über die Brüste bis auf ihre Schenkel fiel.
Sie sah dem Flammenkind zum Verwechseln ähnlich, wie Azur sofort mit klopfendem Herzen feststellte. Nur sah sie dennoch einen Hauch von hundert Jahren älter aus. Älter war natürlich relativ, in Dimensionen von Jahrtausenden. Wenn Azur schätzen müsste, so wie er es auch bei Neko getan hatte, würde er vermutlich auf den Körper einer Siebzehn- bis höchstens Zwanzigjährigen tippen. Was er sah, gefiel ihm jedenfalls. »Zu sehr«, wie ihm ein kleines Stechen in seiner Brust sofort ermahnte.
Ihm war zum einen ihre Verbindung mit Amor bewusst, aber noch wichtiger waren die Gedanken an den Pfefferminzduft, den er immer noch jede Stelle seines Körpers streicheln fühlte.
Zudem gab es Wichtigeres, für das er hergekommen war.
Armor erwachte aus seinem Delirium und fiel sogleich wieder wortlos vor ihr auf die Knie. Während er einen ihrer schmalen Füße küsste, wurde er von ihr mit einem Kopfstreicheln ihres Armstumpfes bedacht. Ein gütiges Lächeln fiel zu ihm herab, wie es von keiner guten Fee hätte lieblicher verschenkt werden können. Sie sah zu Neko und tauschte mit ihr ein so vertrautes Lächeln aus, wie es nur Schwestern mit geheimen Botschaften füllen konnten. Wie ein Kätzchen kuschelte sich das Flammenkind nun auf ihrem Schoß zusammen und ließ sich von ihr mit den Fingern an Kinn und Hals kraulen. Beinahe hörte man Neko tatsächlich schurren. Es hätte aber ebenso gut von ihrem samtpfötigen Verfolger stammen können, der sich derweil – noch unbemerkt – hoch oben auf einer Guillotine einen bequemen Beobachtungsposten einrichtete.
»Komm näher. Ich beiße nicht«, lockte ihn die samtweiche Stimme des Mädchens.
Azur konnte sich gegen diesen lieblichen Klang nicht im Geringsten wehren und trat vor sie.
»Es ist mir eine Ehre dich kennenzulernen, junger Azur und ich danke dir, dass du dich an unsere kleine Vereinbarung gehalten hast. Danke, dass du mir mein Servalein gebracht hast. – Lässt du mich deinen Kern fühlen? Darauf freue ich mich schon fast zwanzig Jahre.«
Azur zögerte jetzt doch einen kurzen Moment. Erst schüttelte er noch dieses lästige Bauchgefühl beiseite, das ihm sagte: »Einer Person, die dauernd lächelt, ist nicht zu trauen.« Da versuchte ihm sein Bauch wohl nur eifersüchtig ein schlechtes Gewissen zu machen. Dabei verwechselte er wohl einfach nur angebrachtes Misstrauen mit unhöflicher Zurückweisung.
»Was ist? Ich habe dir doch deine Belohnung versprochen. Ich bin mir sicher, dass du deine wahre Bestimmung; die Wahrheit über deine Existenz erfahren möchtest. Ich kann sie dir zeigen. Dank der Kleinen hier ist es mir wieder möglich. Du muss nur näher kommen und dich vor mich knien. Wie du siehst, bin ich angekettet und kann nicht aufstehen.«
Als ihn die Neugier besiegte, kniete er sich vor die Mitte des Throns, senkte instinktiv den Blick und schloss die Augen.
Er spürte ihre Hand auf seinem Kopf, wie sie vermutlich nach einer bestimmten Stelle tastete. Als er gerade etwas ungeduldig wieder nach oben sah, streifte sein Sichtfeld kurz Amor, der merkwürdig weggetreten vor sich hin sabberte. Sein Blick kreuzte, kurz über Licentias Beinen, den des Flammenkinds, das ganz und gar nicht so entspannt auf der Seite lag, wie er es sich eingebildet hatte. Ihre weit aufgerissenen Augen schienen ihm eine laute Botschaft entgegenschreien zu wollen. Doch irgendetwas hielt sie stumm und regungslos.
»Was ...«, setzte er zu einer beunruhigenden Frage an, als ein gleißendes Licht ihm wie eine Harpune durch den Schädel schlug.
Er war augenblicklich blind – so blind, wie er ihr vertraut hatte.
Ein kontinuierlich anschwellender Pfeifton durchstach seine Trommelfelle und machte ihn vollends orientierungslos.
Sein Körper verkrampfte sich schließlich so, dass es ihm die Luft aus den Lungen presste. Kurz nach dem Moment, da er sich seines Erstickungstodes sicher war, ließ ihn diese Gewalt mit einem Male los. An ihre Stelle trat das befreiende Gefühl, zu fallen.
Dann herrschte himmlische Stille –.
* * *
Das schmerzende Weiß lässt nun Schemen und Umrisse hindurchscheinen. Auch dumpfe Töne und Stimmen sind wieder zu vernehmen. Azur erkennt sofort, wo er sich befindet. Seine alte
Denk-Eiche ist unverkennbar. Es ist sein Lieblingspark, dort auf der anderen Straßenseite. Dass sein merkwürdiges Leben gerade hier seine Bestimmung gefunden haben soll, überrascht ihn nicht sonderlich. Allerdings das helle Glöckchen, das hinter ihm erklingt. Er dreht sich herum und steht vor dem kleinen Tante Emma Laden, in dem er als Kind regelmäßig sein Taschengeld in Süßigkeiten und
Manga-Hefte angelegt hatte – jedenfalls bis er damals ausbrannte und dann abgerissen wurde. Ein Blick auf die kleinen Filmplakate an der Hauswand und das genaue Wann steht fest. Er würde erst in fünf Jahren geboren werden.
Und zwar von der jungen Frau, die gerade bimmelnd das Lädchen betreten hatte. Er kann sie durch das Schaufenster gut erkennen.
Sie scheint nur ein paar Kekse zu kaufen. Schnell hat sie bezahlt und verlässt den Laden wieder. Aufgeregt sucht Azur nach Worten, die er ihr entgegenlächeln kann, da wird ihm die Sinnlosigkeit seines Unterfangens bereits surreal bewusst. Das vergangene Ich seiner Mutter läuft geradewegs durch ihn hindurch. Jetzt fällt ihm auch sein fehlendes Spiegelbild auf. War ja zu erwarten in einer Vision oder Erinnerung, in der er nur ein Geistreisender ist.
Kaum mit diesem Gedanken angefreundet, beginnt das wohl eigentliche Szenario, das ihm hier dargeboten werden sollte.
Zukunfts-Mama wird von einem Mädchen mit hüftlangen, schwarzen Haaren über den Haufen gerannt, das panisch den Fußweg heruntergeeilt kam – Licentia.
»Entschuldige, Helena. Komm hoch!« Sie springt unbeeindruckt wieder auf und reißt seine Bald-Mama unsanft auf die Füße.
»Das hat wehgetan! – Woher kennst du eigentlich meinen ...«
»Keine Zeit für lange Erklärungen! Sie sind gleich hier! Du musst mir helfen!« Am Handgelenk wird die verdutzte junge Frau in die nächste Seitengasse gezerrt. »Pass gut auf! Was ich dir jetzt zeige, ist eminent wichtig! Wichtig für ... äh..., für die Rettung des gesamten Planeten!
Du wirst es gleich begreifen. Vertrau mir!«
Mit weiten Augen steht Helena nur völlig perplex da. – Von der Freiheit entführt. – Zu keiner Gegenwehr imstande wird sie an den Schultern gegen die Hauswand gedrückt. Dann legt ihr Licentia die flache Hand auf den Scheitel und schließt die grünen Augen.
Azur ahnt, was jetzt folgen würde und holt noch einmal tief Luft, bevor er seinen Körper prophylaktisch anspannt. – »Auf in eine Vision innerhalb einer Vision.« – Auch sein imaginäres Bauchgefühl lässt ihn richtig liegen und erneut beginnt die grässliche Tortur.
(T -51h:55m:00s)
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